Compliance oder Krise? Wie die Elektroindustrie auf neue Anforderungen reagieren muss

Jörg Ertelt-Zitat

Die Anforderungen an die Product Compliance in der Elektroindustrie nehmen kontinuierlich zu – nicht nur aufgrund komplexer gesetzlicher Vorgaben, sondern auch durch den steigenden Anspruch an Sicherheit, Nachhaltigkeit und Transparenz entlang der gesamten Lieferkette.

In unserem Interview sprechen wir mit Jörg Ertelt über die aktuell größten Hürden bei der Umsetzung von Product Compliance, über besonders kritische Normen und Vorschriften sowie über die Rolle von Risikobeurteilung, Konformitätsbewertung und Produktbeobachtungspflicht bei der Entwicklung einer nachhaltigen und gesetzeskonformen Produktstrategie.

Jörg Ertelt
Jörg Ertelt, Gründer und Inhaber von HELPDESIGN-JÖRG ERTELT

Wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen bei der Umsetzung von Product Compliance in der Elektroindustrie?

Aus meiner Perspektive als Unternehmer und Berater sehe ich die Umsetzung europäischer Regularien zur Produktkonformität als eine der größten Herausforderungen im unternehmerischen Alltag. Diese Regularien nehmen in Anzahl und Komplexität stetig zu und erreichen europäische Unternehmen in immer kürzeren Abständen. Zudem zeigt sich, dass die Qualität der Ausarbeitung nicht immer konsistent ist — von fehlender Interpunktion über sehr lange Sätze bis hin zu Logiklücken und sinnentstellenden Übersetzungen.

Eine zentrale Rolle in diesem Zusammenhang spielt der Green Deal, insbesondere die Ökodesign-Verordnung als Exekutiv-Rechtsvorschrift, die weitreichende Auswirkungen hat. Anstatt primär Anreize für Innovationen zu setzen, steht die Einhaltung umfangreicher Vorgaben im Vordergrund, die potenziell jedes Unternehmen betreffen können — auch solche, die sich rechtskonform verhalten. Hinzu kommt, dass die Ökodesign-Verordnung nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern im Kontext mit zahlreichen weiteren Rechtsvorschriften zu sehen ist, die direkt oder indirekt damit verknüpft sind. Die Herausforderung besteht zunehmend darin, das eigene Unternehmen erfolgreich zu führen und zugleich den vielfältigen regulatorischen Anforderungen gerecht zu werden.

 

Welche gesetzlichen Vorgaben und Normen sind derzeit besonders kritisch für Unternehmen der Branche?

Das kommt darauf an, was mit „kritisch“ gemeint ist. Kritisch im Sinne von „unternehmensbedrohend“? Oder im Sinne von „herausfordernd, aber nicht existenzgefährdend“? Oder als „eine Situation, bei der man mit einem Sachverhalt nicht vollständig einverstanden ist“?

Eine Herausforderung stellt derzeit insbesondere die Produktsicherheitsverordnung (EU) 2023/988 dar, die etliche Unternehmen offenbar unvorbereitet getroffen hat. Jedenfalls zeigt sich bei einigen dieser Unternehmen inzwischen die Erkenntnis, dass ein auf den ersten Blick harmloses Buch als Verbraucherprodukt durchaus sicherheitsrelevant sein kann. Dabei zielt die Produktsicherheitsverordnung nicht auf den Inhalt ab, sondern auf potenzielle Risiken, die vom physischen Produkt „Buch“ ausgehen könnten. Wer dabei an den Film Der Name der Rose denkt, in dem Mönche beim Lesen vergifteter Bücher ums Leben kamen, liegt allerdings daneben. Mit Produktsicherheit hat das nichts zu tun. Vielmehr wurde dort der Gedanke verfolgt, durch vergiftete Seiten das Lachen zu unterbinden.

Ein weiterer Aspekt betrifft die Funkanlagenrichtlinie. Immer mehr Hersteller setzen auf die Strategie, „smarte“ Produkte anzubieten. So wird es zunehmend als modern empfunden, etwa eine Waschmaschine, die in Stuttgart steht, von Hamburg aus per Smartphone und App zu steuern. Wer dann tatsächlich die Wäsche einlegt, wenn man selbst nicht vor Ort ist, bleibt dabei oft offen. Wie auch immer: Diese Hersteller müssen sich künftig mit dem Cyber Resilience Act und ggf. mit den einschlägigen harmonisierten Normen zur Funkanlagenrichtlinie auseinandersetzen, die Anforderungen an die Cybersicherheit stellen. Wenn darüber hinaus ein Hersteller sein smartes Produkt mit Holz veredeln möchte, berührt das schnell die sogenannte Entwaldungsverordnung (EU) 2023/1115. In diesem Fall ist der Hersteller gehalten, in einer Sorgfaltserklärung die Geokoordinaten anzugeben, an denen der Baum gewachsen ist, dessen Holz verwendet wurde.

Nicht zuletzt seien exemplarisch noch die Richtlinie zum Recht auf Reparatur sowie die neue Verpackungsverordnung genannt. Das Thema Künstliche Intelligenz lasse ich an dieser Stelle außen vor.

 

Wie helfen Risikobeurteilung, Konformitätsbewertung und Produktbeobachtungspflicht Unternehmen konkret bei der Entwicklung einer rechtssicheren Produktstrategie?

Zunächst ist festzuhalten, dass Risikobeurteilung und Konformitätsbewertung Instrumente zur Erfüllung der Vormarktpflichten sind, während die Produktbeobachtung ein Instrument zur Erfüllung der Nachmarktpflichten darstellt. Vormarktpflichten sind jene Pflichten, die Wirtschaftsakteure wie Hersteller, Einführer oder Händler vor der Bereitstellung von Produkten auf dem Markt der EU erfüllen müssen. Man kann auch sagen: Ohne die Erfüllung der Vormarktpflichten ist ein Marktzugang von Produkten mangels Verkehrsfähigkeit nicht möglich. Nachmarktpflichten hingegen sind jene Pflichten, die von den genannten Wirtschaftsakteuren zu erfüllen sind, nachdem diese Produkte auf dem Markt der EU bereitgestellt haben. So muss z. B. ein Hersteller aktiv werden, wenn er nach dem Inverkehrbringen seines Produkts festgestellt, dass dieses nicht sicher ist und eine Gefahr für Leib und Leben darstellen könnte. Gerade bei Verbraucherprodukten gibt es hierzu zahlreiche Beispiele, die im Safety Gate dokumentiert sind.

Anders ausgedrückt: Wer die Erfüllung der Nachmarktpflichten möglichst vermeiden möchte, sollte mit besonderem Augenmerk und Sorgfalt die Umsetzung der Vormarktpflichten betreiben. Letztlich können die möglichen Sanktionen, die bei Verstößen drohen, erhebliche Auswirkungen haben. Nicht unbedingt für global agierende Unternehmen wie Suchmaschinenbetreiber oder Hersteller von Smartphones, bei denen solche Sanktionen oftmals bereits in die Produkte bzw. Dienstleistungen einkalkuliert sind. Bei kleinen und mittleren Unternehmen mit begrenzten finanziellen Ressourcen und geringeren Möglichkeiten, mögliche Sanktionen einzuplanen, stellt sich die Situation jedoch deutlich anspruchsvoller dar. Insofern sollten Risikobeurteilung und Konformitätsbewertung besonders in den Fokus gerückt werden.


Vertiefendes Wissen zu den aktuellen Anforderungen der Product Compliance vermittelt unser modularer Online-Lehrgang. Von unserem Trainer Jörg Ertelt erhalten Sie praxisnahes Wissen zu den zentralen Anforderungen entlang des gesamten Produktlebenszyklus. Sie lernen, gesetzliche Vorgaben wie die CE-Kennzeichnung, Normen und Dokumentationspflichten sicher anzuwenden und eine rechtssichere Produktstrategie im Unternehmen umzusetzen.